Autor: Anja Herwig
Rezension: Die Johannes-Passion mit der Johannisthaler Kantorei
Was ist das, wenn sich heute eine Kantorei so mit einer über zweitausend Jahre alten Leidensgeschichte verbindet, dass wir sie als aktuelle Wahrheit erleben? Einfühlungsvermögen, eine in und aus sich selbst wirkende zeitlose Kraft, der Genius Joh. Sebastian Bachs, der besondere Geist der Chorgemeinschaft oder alles zugleich? Jedenfalls wurde die überfüllte Christuskirche Berlin-Oberschöne-weide am 9. April 2017 einmal mehr von einem Ereignis berührt, das seinesgleichen sucht. Dabei war es – wie gewohnt – der einzigartige Musiziergeist des Chores „unter“ Martin Fehlandt, der das gesamte Ensemble zu inspirieren vermochte:
Zunächst Ralph Eschrig von der Deutschen Oper Berlin (Tenor), der den anspruchsvollen Part des Evangelisten ausdrucksreich und mit großer Intensität zu meistern wusste. Dann den vielseitig erfahrenen Matthias Jahrmärker vom Landestheater Eisenach, dessen beseelter entspannter Bariton für die Rolle des Jesus wie geschaffen ist. Hernach den bewährten Martin Schubach, der mit seinem gesunden kraftvollen Bass eindrucksvoll die Pilatus-Rolle „spielte“, aber auch die namhafte Ines Muschka (Alt) mit ihren gesangstechnisch ausgereiften wohltuenden Ruhepunkten. Doerthe Maria Sandmann musste sich leider im letzten Moment von Johanna Krumin vertreten lassen, so dass keine ausreichende Probenarbeit der Sopranpartien mehr möglich war – was den zutiefst bewegenden Gesamteindruck jedoch nicht trüben konnte, der immer wieder vom Chor ausging.
Schon die ersten Töne („Herr, unser Herrscher“) offenbarten, dass es sich hier nicht um Konditionierung, sondern um ein gemeinsames Herzensanliegen handelt. Der Chorklang ist so frei, geschlossen und tiefenwirksam zugleich, dass er sofort in die Gänsehaut holt. Keinerlei erzwingende Dominanz des Dirigenten, sondern ein Liebesverhältnis: gemeinsames Schwingen in einem gemeinsamen Geist, farbreich verwoben mit der Camerata Instrumentale Berlin, um damit souverän alle Gipfel affektiver Dramatik zu erreichen, wie sie Bach in keinem anderen Chorwerk so zahl- und formenreich errichtet hat, immer wieder von Chorälen durchsetzt, die in ihrer warm leuchtenden Innigkeit wie höhere Heimkehr erscheinen.
Jeder chorische Aufstieg gelang mit einer eindringlichen Sinnfälligkeit, die restlos überzeugte: sei es die fanatische Suche nach „Jesum von Nazareth…“, das sich bösartig zuspitzende „Bist Du nicht seiner Jünger einer?“, die trotzig-falsche Gewissheit „Wäre dieser nicht ein Übeltäter…“, die eifernde Gesetzestreue „Wir dürfen niemand töten“, die drängende Entscheidung zugunsten eines Mörders „Nicht diesen (Jesus), sondern Barrabam“, das lustvoll spottende „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig!“, das sich erbarmungslos (und hochgenial) steigernde „Kreuzige! Kreuzige!“, die Unerbittlichkeit der beiden folgenden Fugen „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz soll er sterben…“ und „Lässest Du diesen los, so bist Du des Kaisers Freund nicht…“, die abwärts durchkreuzigten Bisse „Weg, weg mit dem…“, das erschrockene „Wohin“ in der Arie „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“, die fordernde Beharrlichkeit „Schreibe nicht: der Juden König…“, die als dichtes Lauffeuer dahin eilende Fuge „Lasset uns denn nicht zerteilen…“, der ergreifende Hoffnungsdialog „Mein treuer Heiland, lass dich fragen“ und das tiefe Loslassen im „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine…“, bevor sich im Schlusschoral endlich Sehnsucht nach Ankunft in einer höheren Wahrheit aussprach, die eine lange anhaltende magische Stille hinterließ, bevor sich innere Freiheit zu gegenseitigem Beifall aller Beteiligten regte, bis der Schlusschoral noch einmal erklang…
Wer die Johannisthaler Kantorei erleben darf, fühlt, dass sich hier etwas vollzieht, was nicht mehr mit den üblichen Maßstäben des Kunstbetriebes messbar ist. Und wenn wir zugleich bedenken, dass es nicht einen einzigen historisch belastbaren Christus-Beweis gibt, nähern wir uns vielleicht der Ahnung, dass sich das „Mysterium von Golgatha“ (Rudolf Steiner) nur in und zwischen uns und möglicherweise auch in solchen Sternstunden ereignen kann.
Was ist das Schönste an einer Rose? – Dass es sie gibt. Und was ist das Schönste an der Johannisthaler Kantorei? Dass sie fühlbares Licht zu sein vermag…
Wolf Bergelt
Johannespassion am 9. April 2017
„Gott ist mein Hirt“ – Konzert im November
Rezension zum Konzert am 15.11.2015
„Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet …“ (Jesaja 66,13)
Das Brahms-Requiem mit der Kantorei Johannisthal

15. November 2015 in der
Christuskirche Oberschöneweide
Willy Groening cc-by-nc-sa de 3.0
Ja, die tote Mutter war es, ihr Menschentrost und der noch früher verstorbene Freund Ro-bert Schumann, die in ihm weiter lebten und Brahms zu seinem Requiem inspirierten. Und zweifellos auch Clara Schumann, zu der er eine tiefe Liebe empfand. Deshalb mussten es menschliche Gefühle sein, die er mit frei gewählten deutschen Bibeltexten verband. Aber auch das war schon ein Kompromiss, denn am liebsten hätte er auf Worte ganz verzichtet und stattdessen den Menschen selbst gesetzt. Er wusste es dennoch zu tun: in seiner Musik. In ihr ist Brahms auf klangfühlende Weise ein Mensch geworden, der uns – immer wieder – in seinen Menschen-Himmel trägt. Um das tun zu können, musste er die klassische (lateinische) Totenmesse hinter sich lassen und in die sinfonische Form ausbrechen. Nur dort war er frei, seine Empfindungen so zu empfangen, wie sie ihn suchten: selig (Satz I und VII), dramatisch (Satz II und VI), dialogisch verschmelzend (Sätze III und V), lieblich (Satz IV), fast immer aus dem Leid über die Trauer in den Trost gelangend. Dabei offenbart sich ein Ausdrucksreich, das düstere Farben, kraftvoll emporwachsende, strahlende Gewissheit und zärtliche Wärme zu einem großen Ganzen verbindet, das nach einem großen Klangkörper und künstlerisch anspruchsvoller Leistung verlangt, die nur wenigen Laienchören ganz gelingt.
Die Kantorei Johannisthal konnte am vergangenen Sonntag unter der Leitung von Martin Fehlandt gemeinsam mit Katrin Ziegler (Sopran), Martin Schubach (Bariton) und der Camerata Instrumentale Berlin in der (mit vielen Stehplätzen überfüllten) Christuskirche Berlin-Oberschöneweide einmal mehr zeigen, dass sie zu den ganz großen Ausnahmeerscheinungen gehört. Die durch viele Jahre gewachsene magische Verbundenheit zwischen Chorleiter und Chor vermochte alle Beteiligten vom ersten bis zum letzten Ton in einer gemeinsamen Hingabe an das Werk zu vereinen, die sich übertrug, zutiefst berührte und offenbarte, was Clara Schumann meinte, als sie schrieb: „Ich kann’s, wie Du ja weißt, nie so recht in Worte fassen, aber ich empfinde den ganzen reichen Schatz dieses Werkes bis ins Innerste, und die Begeisterung, die aus jedem Stücke spricht, rührt mich tief, daher ich mich auch nicht enthalten kann es auszusprechen.“ Nicht zuletzt die eindringliche Intensität, mit der sowohl die poesievollen lyrischen als auch die kraftvollen Sätze plastisch und sinnfällig herausgearbeitet wurden, aber auch die freie offene Strahlkraft des Chorklanges, der sofort die Seele öffnet, haben zu diesem unvergesslichen Ereignis beigetragen.
Wie stark und unmittelbar die Aufführung wirkte, zeigte sich, nachdem der letzte Ton verklungen war, als sich nach anfänglicher Stille ein lang anhaltender frenetischer Beifall entlud, der seinesgleichen sucht. Er darf durchaus als Antwort auf ein Werk verstanden werden, das humanisierende Spuren in der Welt zu hinterlassen vermag …
Wolf Bergelt
Johannes Brahms: Ein Deutsches Requiem
Am Sonntag, den 15.11.2015 um 17 Uhr ist es soweit: mit dem „Deutschen Requiem“ wird die Kantorie Johannisthal das bisher größte Projekt zu Gehör bringen. Wir danken schon jetzt allen Spendern, die uns im Vorfeld unterstützt haben und freuen uns auf viele Gäste in der schönen Christuskirche in Oberschöneweide!
„Sein Joch ist sanft, die Last ist leicht …“
Händels „Messias“ mit der Kantorei Johannisthal
Vielleicht ist es gerade diese Textstelle aus dem Matthäus-Evangelium – der im „Messias“ eine ganze Chorfuge gewidmet ist – die am 16. November in der Christuskirche Berlin-Oberschöneweide das christliche Mysterium, die tief bewegende Leistung der Ausführenden, die Zuhörer und den Komponisten auf den Flügeln einer Musik verband, die nach der (ärztlicherseits unerwarteten) Genesung ihres Schöpfers von einem schweren Schlaganfall entstand. Zumindest ist es nicht abwegig, wenn Stefan Zweig literarisch* vermutet, dass dieses „Wunder“ eine starke Kraftquelle bei der Entstehung des „Messias“ gewesen sein muss, den Händel in nur 24 Tagen schuf. Jedenfalls hat jenes Werk selbst die Kraft, das sanfte und dennoch mühevolle Probenjoch nicht nur zur leichten Last, sondern zum erhebenden Erlebnis werden zu lassen, wenn der Begeisterungsfunke zwischen Chorleiter (Martin Fehlandt) und Ensemble – wie hier geschehen – auch auf die Hörer überspringt.
Die Aufführung war vom ersten Takt an von einer gemeinsamen Hingabe geprägt, die an Intensität nichts zu wünschen übrig ließ und zu einer Gesamtleistung führte, die einen Markstein im Konzertleben der Christuskirche, aber auch der Johannisthaler Kantorei darstellt, mit der Martin Fehlandt seit Jahren ein klingendes Lebenswerk zum Erlebniswerk formt. Dabei zeigte sich einmal mehr, mit welcher opernversierten Direktheit Händel Affekte in klang-rethorische Gestik umzusetzen wusste und das Publikum heute wie damals zu erreichen vermag, wobei er sich hier einer bewährten Dramaturgie aus solistischen Elementen (Rezitative, Arien und Ariosos), Chören und in diesen zuweilen auch sinnfälliger Tempowechsel sowie eines (Charles Jennens zugeschriebenen) Librettos bediente, das auf Bibelstellen zurückgeht und intentional so passend gewesen sein mag, dass jeder Part zu einem Wurf geriet, der an Ausdruckskraft und Schönheit seinesgleichen sucht, was von allen Mitwirkenden überzeugend und vielfach großartig vermittelt werden konnte.
Dazu haben sowohl der gediegene Musiziergeist der Camerata Instrumentale Berlin, als auch die hohe Gesangskultur von Doerthe Maria Sandmann (Sopran) und Ines Muschka (Alt), die eindrucksvollen Stimmen von Christoph Leonhardt (Tenor) und Martin Schubach (Bass) und nicht zuletzt das hinreißende Zusammenspiel von Chor- und Dirigentenleistung beigetragen, die im Detail zu würdigen hier leider unterbleiben muss.
Welche Wirkung diese überkonfessionelle Sprache entfalten kann, wenn sie so gesprochen wird, wurde nach dem Schlusston offenbar, als der Beifall spontan in einen Begeisterungssturm überging, wie er sonst in diesem Metier in Kirchen kaum zu finden ist. Sind es nicht immer solche Augen- bzw. Ohrenherzblicke gewesen, die verhärtete Fronten aufzulösen vermochten, wo kein anderes Mittel mehr half? Und ist es naiv oder christlich, zu fragen, ob es nicht besser wäre, alle Rüstungsmittel für Chöre auszugeben, um weltweit den Frieden zu ersingen, wo man jetzt Kriegstrommeln rührt?
Wolf Bergelt
(* Stefan Zweig, Georg Friedrich Händels Auferstehung, in: Sternstunden der Menschheit)