Rezension zum Konzert am 15.11.2015

151115_BrahmsRequiem_3„Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet …“ (Jesaja 66,13)

Das Brahms-Requiem mit der Kantorei Johannisthal

Willy Groening cc-by-nc-sa de 3.0
Johannes Brahms: Ein Deutsches Requiem
15. November 2015 in der
Christuskirche Oberschöneweide
Willy Groening cc-by-nc-sa de 3.0

Ja, die tote Mutter war es, ihr Menschentrost und der noch früher verstorbene Freund Ro-bert Schumann, die in ihm weiter lebten und Brahms zu seinem Requiem inspirierten. Und zweifellos auch Clara Schumann, zu der er eine tiefe Liebe empfand. Deshalb mussten es menschliche Gefühle sein, die er mit frei gewählten deutschen Bibeltexten verband. Aber auch das war schon ein Kompromiss, denn am liebsten hätte er auf Worte ganz verzichtet und stattdessen den Menschen selbst gesetzt. Er wusste es dennoch zu tun: in seiner Musik. In ihr ist Brahms auf klangfühlende Weise ein Mensch geworden, der uns – immer wieder – in seinen Menschen-Himmel trägt. Um das tun zu können, musste er die klassische (lateinische) Totenmesse hinter sich lassen und in die sinfonische Form ausbrechen. Nur dort war er frei, seine Empfindungen so zu empfangen, wie sie ihn suchten: selig (Satz I und VII), dramatisch (Satz II und VI), dialogisch verschmelzend (Sätze III und V), lieblich (Satz IV), fast immer aus dem Leid über die Trauer in den Trost gelangend. Dabei offenbart sich ein Ausdrucksreich, das düstere Farben, kraftvoll emporwachsende, strahlende Gewissheit und zärtliche Wärme zu einem großen Ganzen verbindet, das nach einem großen Klangkörper und künstlerisch anspruchsvoller Leistung verlangt, die nur wenigen Laienchören ganz gelingt.
Die Kantorei Johannisthal konnte am vergangenen Sonntag unter der Leitung von Martin Fehlandt gemeinsam mit Katrin Ziegler (Sopran), Martin Schubach (Bariton) und der Camerata Instrumentale Berlin in der (mit vielen Stehplätzen überfüllten) Christuskirche Berlin-Oberschöneweide einmal mehr zeigen, dass sie zu den ganz großen Ausnahmeerscheinungen gehört. Die durch viele Jahre gewachsene magische Verbundenheit zwischen Chorleiter und Chor vermochte alle Beteiligten vom ersten bis zum letzten Ton in einer gemeinsamen Hingabe an das Werk zu vereinen, die sich übertrug, zutiefst berührte und offenbarte, was Clara Schumann meinte, als sie schrieb: „Ich kann’s, wie Du ja weißt, nie so recht in Worte fassen, aber ich empfinde den ganzen reichen Schatz dieses Werkes bis ins Innerste, und die Begeisterung, die aus jedem Stücke spricht, rührt mich tief, daher ich mich auch nicht enthalten kann es auszusprechen.“ Nicht zuletzt die eindringliche Intensität, mit der sowohl die poesievollen lyrischen als auch die kraftvollen Sätze plastisch und sinnfällig herausgearbeitet wurden, aber auch die freie offene Strahlkraft des Chorklanges, der sofort die Seele öffnet, haben zu diesem unvergesslichen Ereignis beigetragen.
Wie stark und unmittelbar die Aufführung wirkte, zeigte sich, nachdem der letzte Ton verklungen war, als sich nach anfänglicher Stille ein lang anhaltender frenetischer Beifall entlud, der seinesgleichen sucht. Er darf durchaus als Antwort auf ein Werk verstanden werden, das humanisierende Spuren in der Welt zu hinterlassen vermag …
Wolf Bergelt

Wie im Himmel

Eine Sternstunde mit der Kantorei Johannisthal

Wer das Mozart-Requiem von weltbekannten Profi-Ensembles gehört hat und dennoch mit der Frage zurückblieb, warum stellenweise Langeweile aufkam, konnte am 18. November in der Christuskirche Berlin-Oberschöneweide erleben, dass die Antwort darauf nicht im Werk, sondern in dessen Auffassung zu finden ist und im Idealfall für das Werk und die Interpreten sprechen kann. Dass diese Einsicht von der Kantorei Johannisthal (Berlin), also einem Laienchor vermittelt wurde, zeigt einmal mehr, dass der Geist (und nicht Profiroutine) es ist, der den Ton lebendig macht.

Ein Funke davon leuchtete bereits im Schlusschoral der vorangehenden Bachkantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) auf, nachdem das Instrumentalensemble „Camerata Instrumentale“ und die Gesangssolisten ihr (zweifellos vorhandenes) Potenzial leider nicht ausschöpfen konnten. Diese in Kirchenkonzerten mangels gemeinsamer Probenzeit häufige und deshalb durchaus verzeihliche Schwäche verschwand im Requiem vom ersten bis zum letzten Chorton in einem Gänsehauterlebnis, das seinesgleichen sucht und den Rezensenten unwillkürlich an den Film „Wie im Himmel“ erinnerte, in dem deutlich wird, wozu die gemeinsame Hingabe an ein Werk führen kann, wenn sie von liebevoller Begeisterung getragen ist, die auch den zwischenmenschlichen Bereich einschließt. Hier liegt das Geheimnis, Alltagsgrenzen hinter sich  zu lassen. Und so war die hochkonzentrierte Interaktion zwischen Chor und Chorleiter Martin Fehlandt nicht nur Ausdruck eines begnadeten Musikers und überzeugenden Interpretationskonzeptes, sondern zugleich auch einer allseitigen Verschmelzung im Geist.

Aufführung des Mozart-Requiem am 18. November 2012

Als Ergebnis entfaltete sich ein Spannungsbogen, der bis zum Schluss nie abriss, weil jeder Moment eindringliche Intensität und Bedeutung erlangte, die sich u. a. aus einem faszinierenden Chorklang, plastischer Stimmführung, expressiver Rhetorik und idealen Tempi ergaben, die gleichsam aus der rhythmischen Sprache der Themen geboren waren. Welche beharrliche hingebungsvolle Arbeit hinter einer solchen künstlerischen Gemeinschaftsleistung steckt, lässt sich wohl (nur) erahnen. Die Aufführung wurde zu einer jener seltenen Sternstunden, deren Magie Menschen mit so ursprünglicher Kraft erfasst, dass sich eine religiöse Stimmung wie von selbst einstellt. Wie stark diese Wirkung hier wurde, war in der anhaltenden Schlussstille zu spüren, in die das Verklungene weiter hineinzuwachsen schien, bis dann doch nicht enden wollender Beifall und eine Zugabe folgten.

Angesichts solcher Ereignisse in zumeist übervollen Kirchen liegt auf der Hand, dass es die unmittelbaren Schöpferkräfte sind, die den Gegenwartsmenschen ansprechen und in die Zukunft tragen wollen, während das mittelbare theologisch-ideologische Element an Einfluss verliert. Es wäre ein folgenschwerer innerkirchlicher Fehler, sich dieser Einsicht zu verschließen. Denn mangelnde Förderung der Zukunftskräfte hat das Überlebte nie zu retten vermocht.

Wolf Bergelt

via Evangelische Kirchengemeinde Johannisthal